Grüne Fassade
Nachhaltige Energieerzeugung /
Beschattung, Wärme- und Schallschutz /
Energetische bioreaktive Fassadenkonstruktion
Ende April wurde auf der IBA, der Internationalen Bauausstellung 2013 in Wilhelmsburg bei Hamburg das BIQ eingeweiht. Das BIQ ist ein Gebäude mit einer außergewöhnlichen Fassade. Die grüne Gebäudehaut ist das Herzstück eines regenerativen Energiekonzepts, das von drei Partnern entwickelt wurde (siehe Kasten). An das fünfgeschossige Passivhaus wurden an der südwestlichen und südöstlichen Fassade bewegliche Elemente der eigentlichen Bioreaktorfassade angebracht. In den vertikalen Glaslamellen werden Mikroalgen gezüchtet, die durch Photosynthese und Solarthermie Biomasse und Wärme produzieren.
Mit seinem Entwurf für das Algenhaus belegte 2009 das Grazer Architekturbüro Splitterwerk mit Planungspartner Immosolar im Wettbewerb Smart Materials der IBA den 1. Rang. Das Algenhaus BIQ ist weltweit das erste Gebäude mit einer Bioreaktorfassade. Als positiven Nebeneffekt ermöglicht die grüne Fassade neue Perspektiven in punkto Beschattung und Lichtsteuerung. Das BIQ ist eines von mehreren „Smart Material“-Häusern auf der IBA, deren Baustoffe sich im Unterschied zu herkömmlichen Baustoffen dynamisch verhalten.
Photobioreaktor-Fassade
Mikroalgen, die in den Bioreaktoren gezüchtet werden, nutzen das Sonnenlicht für ihr Wachstum und wandeln im Zuge der Photosynthese CO2 sowie Nährsalze in Biomasse um, die später als Rohstoff für die Erzeugung von Biogas als Energiequelle dient. Die Einzeller sind effizienter in der Umwandlung von Lichtenergie in Biomasse als andere Pflanzen: Sie teilen sich bis zu einmal täglich und verdoppeln so ihre Masse. 1 g trockene Biomasse enthält etwa 23 bis 27 kJ Energie. Gleichzeitig ist die Biomasse aber auch Rohstoff für Kosmetik und Pharmazie oder für Tierfutter und Nahrungsergänzungsmittel. Je nach Algengehalt im Medium lässt sich die Transparenz des Systems von ca. 10 bis 80 % steuern.
Funktionale Eigenschaften
Die transparenten, plattenförmigen Hohlkörper der Bioreaktoren, die als Behälter für die Algenkulturen dienen, müssen funktionale Eigenschaften aufweisen und ästhetische Ansprüche erfüllen. Zur maximalen Ausnutzung des Sonnenlichts befinden sich die Reaktoren an den Südseiten der Gebäudewand und bilden somit das Gesicht des Gebäudes – während sie von innen im Blickfeld der Gebäudenutzer liegen. Es wurde ein Aluminiumrahmen konstruiert, der zwei durch ein Distanzprofil getrennte Glasscheiben hält, die wiederum den Raum für die Algenkulturen bilden. Die Schwierigkeit war, dass die Rahmenprofile die Spannkraft aushalten müssen, die nötig ist, um die beiden Glasscheiben sicher und dicht zusammenzuhalten. Der Hohlraum fasst etwa 24 l des mit Nährsalzen angereicherten Kulturmediums, in dem die Algen angesiedelt sind. Die Bioreaktoren haben je einen Zu- und Ablauf. So können alle Reaktoren zu einem zirkulierenden System miteinander verbunden werden. Das Kulturmedium wird durch Druckluft ständig in Bewegung gehalten, so dass die Mikroalgen innerhalb des Reaktors nicht absinken. Hohe Strömungsgeschwindigkeiten an den Innenflächen verhindern ein Absetzen oder Faulen der Mikroalgen. Kontinuierlich wird, um das Wachstum der Algen zu fördern, CO2 in den Reaktor eingebracht. Drei parallel laufende, vertikale Innenstege sorgen für die Verteilung des Gases im Reaktor. Sie bilden vier unabhängige Kanäle, durch die das CO2 eingebracht wird. Im folgenden Video sieht man deutlich, wie das Gas durch die Kanäle zwischen den Stegen nach oben strömt und die gesamte Algenkultur in Bewegung bringt. Direkt-Link: http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=w-7Rtv1Q_oE
Multipler Energielieferant
Damit aus der Bioreaktorfassade ein multipler Energielieferant wird, bedarf es weiterer technischer Komponenten, die zusammengeführt und gesteuert werden müssen. Zunächst werden die Bioreaktoren in Reihe geschaltet, damit das Algen-Kulturmedium zirkuliert. In der Haustechnikzentrale können Biomasse und Wärme entnommen werden. Die gewonnene Energie wird über das Energiemanagement gespeichert bzw. verteilt.
Über Tag fungieren die Reaktoren wie solarthermische Absorber, durch den Lichteinfall heizen sie sich auf. Im Haustechnikraum wird die Wärme über einen Wärmetauscher abgeleitet und anschließend gespeichert oder unmittelbar zur Brauchwassererwärmung genutzt. Die Temperatur wird über eine angeschlossene Wärmepumpe gesteuert; neben der Warmwasseraufbereitung kann es auch für die Raum- bzw. Luftheizung genutzt werden.
Die entstehende Biomasse wird mit einem Algenabscheider „geerntet“, der Mikroalgen und Kulturmedium trennt: Die Algenbiomasse wird in einen Behälter gesammelt, während das Kulturmedium zurück in den Kreislauf geführt wird. Die Al-
genbiomasse wiederum wird in einer Konversionsapparatur zu Methan (Biogas) umgewandelt. Dabei liegt die Effizienzquote bei 70 bis 80 %. Das Biogas wird ins öffentliche Gasnetz eingespeist oder kann für gasbetriebene Autos bzw. BHKW genutzt werden.
Energie-Management-Zentrale
Die automatisierte Prozess- und Anlagenführung macht eine kontinuierliche Kultivierung der Algen möglich. Sie verknüpft diese bei minimalem Aufwand mit deren Ernte und Verwertung, was technisch als „plug-in“ in standardisierte Haustechniklösungen integriert werden kann. Die Wasserversorgung und die Entsorgung der Bioreaktoren erfolgt über das städtische Frisch- bzw. Abwassersystem. Auch die Ausrichtung der Bioreaktorfassade, um die Produktion von Wärme und Biomasse, aber auch die Funktionalitäten Wärme-, Hitze- und Lichtschutz sowie Schalldämmung zu steuern, funktioniert über die Energie-Management-Zentrale.
Einsatzorte
Zu den möglichen Einsatzorten der Bioreaktorfassade gehören sowohl großflächige Industriebauten oder Gewerbehallen als auch Gebäude der öffentlichen Infrastruktur wie Bahnhöfe oder Flughäfen, aber auch Siedlungsbauten, Gewerbeimmobilien oder Wohngebäude sind denkbar. Diese Gebäude könnten zu lebendigen Energiespendern umfunktioniert werden, was auch bei einer Sanierung möglich ist. Besonders für Industriebtriebe kann ein Imagevorteil generiert werden, wenn der CO2-Abbau gewissermaßen an der Fassade „ablesbar“ ist. Das Bioreaktorensystem könnte auf diese Weise zu einem lebendigen Baustein der Umweltkommunikation mit ansehnlicher Energiebilanz werden.
Das BIQ in Hamburg-Wilhelmsburg verfügt über etwa 200 m² Algenfassade. Bei einem Ertrag von täglich 15 g getrockneter Biomasse pro m² kann bei der Umwandlung in Biogas ein Nettoenergiegewinn von ca. 4500 kWh jährlich erreicht werden. Die Algenfassade könnte einen Vierpersonenhaushalt mit nachweislich grünem Strom versorgen.
Entwicklung
Mit der Frage, wie man Mikroalgen im großen Stil kultivieren kann, beschäftigt sich die SSC Strategic Science Consult GmbH schon seit 2008. Sie rief das interdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungsprojekt TERM (Technologien zur Erschließung der Ressource Mikroalgen) ins Leben. In Zusammenarbeit mit Hochschulen und Universitäten aus Norddeutschland wurden in einer Pilotanlage in Hamburg Reitbrook die Voraussetzungen geschaffen, um die Mikroalgentechnologie im Fassadenbereich einsetzen zu können. Im November 2010 folgte ein Verbundprojekt auf Initiative der Arup Deutschland GmbH, die gemeinsam mit der SSC Strategic Science Consult GmbH und Colt International mit der Entwicklung einer Mikroalgentechnologie für den Einsatz an Fassaden begann. Das Verbundprojekt wird durch „Zukunft Bau“, eine 2006 ins Leben gerufene Forschungsinitiative des BMVBS gefördert.