Entwässerung im Zuge der Zeit
Retention in Berlin
Normalerweise ist es das Bestreben, Regenwasser zügig vom Dach abzuführen. In einer Stadt wie Berlin, die in enormem Tempo wächst, ist das anders. Hier gilt es, Regenwasser zurückzuhalten und verzögert einzuleiten, um die Berliner Kanalisation, die vor über 100 Jahren entstand, nicht zu überfordern. Auch die Stadler Deutschland GmbH wächst. Als das Zugbau-Unternehmen das Betriebsgelände im Norden der Stadt um neue Gebäudekomplexe erweitert, fährt es ein innovatives Entwässerungskonzept.
„Die Idee der Retention steht teilweise im Widerspruch zu geltenden Normen, da nicht wie üblich das Regenereignis so schnell wie möglich vom Dach geleitet, sondern gewollt zurückgehalten wird. Die von der DIN 1986-100 geforderte planmäßige Regenrückhaltung erfolgt nicht auf dem Grundstück, sondern direkt auf dem Dach“, erläutert Thomas Dreisilker von der Sita Anwendungstechnik. Möglich ist dies, wenn die Statik darauf abgestimmt ist, die Zusatzlast zu tragen. Mit einem ca. 5.000 m2 großen Retentionsdach erfüllt Stadler auch die Forderungen der Stadt Berlin. Im Wasserhaushaltsgesetz der Stadt, BWG § 36 a Abs. 2 + 3, ist vorgesehen, dass Grundstückseigentümer über eine Rechtsverordnung oder einen Bebauungsplan verpflichtet werden können, Niederschlagswasser zu versickern, zu reinigen, zurückzuhalten oder auch abzuleiten. Die Aufgabe der Regenrückhaltung übernimmt nun das solide Betondach über der neu errichteten Werkstatt und Aufsetzhalle, das über ein Retentionsdach mit Gründachaufbau verfügt, das Regenwasser zurückhält, teilweise klimafreundlich verdunstet und zeitverzögert in die Kanalisation einleitet.
Im „grünen Bereich“
„Maßgabe war, am Standort so wenig Wasser wie möglich einzuleiten“, erläutert Projektleiter Jan Ochmann vom Planungsbüro PLAN.ing aus Dessau-Roßlau. „Mit den Retentionsanlagen im Tiefbau, die wir auf Freiflächen im Norden und Süden des Grundstücks eingeplant hatten, konnten wir die Vorgaben der Stadt Berlin allein nicht erfüllen. Wir planten also zweigleisig. Mit einem zusätzlichen Rückhaltevolumen auf dem Dach im Bereich der Aufsetzhalle kamen wir entwässerungstechnisch in den ‚grünen Bereich‘.“ Das Gesamtkonzept, das die komplette Liegenschaft betrachtet, wurde daraufhin von der Verwaltung gebilligt.
„Praktisch war, dass wir im Bereich der Aufsetzhalle Massivdecken hatten, die genügend Statikreserven für einen Retentionsaufbau aufweisen“, erklärt der Projektleiter weiter. „Da Retention in Kombination mit einer Freispiegelentwässerung arbeitet, brauchten wir allerdings ein gewisses Gefälle bei der Leitungsführung. Das war im Bereich der Aufsetzhalle mit Deckenkran und geringer lichter Installationshöhe nicht ganz ohne Tücke, aber letztendlich realisierbar.“
Entwässerung in „Zeitlupe“
Weitläufige Gründachflächen, eingefasst von Randbereichen mit Kiesschüttung oder Terrassenbelag, bilden jetzt die Basis für ein „grünes“ 0°-Retentionsdach. Die Hauptentwässerung läuft hier über 27 „SitaStandard Gullys DN 70“ mit Aufstockelement 60-160 mm zur Überbrückung der 120 mm hohen Wärmedämmung. Schaffen sie normalerweise ca. 10 l pro Gully und Sekunde vom Dach, so sorgt das „SitaMore“ Retentionsbauteil dafür, dass nur noch 0,25 l/s je Dachablauf in die Kanalisation eingeleitet werden.
Thomas Dreisilker, Anwendungstechniker der Sita: „Ein Retentionsdach mit extensiver Begrünung erfordert sorgfältige Planung. Unsere Berechnung der Regen- und Notentwässerung liefert Ergebnisse zur reduzierten Ablaufleistung der Sita Dachabläufe mit ‚SitaRetention Fix‘ zum standortbezogenen Regenrückhaltevolumen. Durch die Kombination von Berechnungsnorm, Berechnungsservice und geprüften Produkten ergibt sich ein neuartiger Ansatz, das Thema Retention ganzheitlich anzugehen und systematisch in der Praxis zu realisieren.“
Für die geregelte Regenrückhaltung wurde jeder Gully mit einem „SitaMore“ Retentionsbauteil ausgerüstet, das aus einem individuell auf die Anstauhöhe kürzbaren Zylinder aus HDPE (High-Density Polyethylen) und einer Grundplatte mit runden Ablauföffnungen besteht. Dank umlaufender 3-lippigen Dichtung lässt es sich schnell und sicher in den Gullytopf einsetzen. Je nach gewünschtem Drosselungseffekt verfügt die Grundplatte über mehr oder weniger 10-mm-Bohrungen, hier über eine oder zwei pro Dachablauf. Ein Rechenexempel verdeutlicht die erstaunliche Wirkung: Für die Aufsetzhalle fallen bei einem normalen Bemessungsregen ca. 190 l/s an. Bei der Ableitung durch das Retentionsbauteil wird der Wasserabfluss auf 0,25 l/s reduziert. Die Differenz verbleibt erst einmal in den Retentionsboxen und dem Dachaufbau. Dies bewirkt, dass die städtische Kanalisation wirksam entlastet wird und schützt so auch vor überfluteten Straßen. Bei einem Berliner Bemessungsregen mit ca. 342 l/s x ha hält die Konstruktion auf dem 4.980 m2 Flachdach ca. 99 % des Bemessungsregens zurück, um sie zeitversetzt in die Kanalisation einzuspeisen. Ein Teil des Wassers wird für die Wasserversorgung der Dachbegrünung genutzt. Ein nicht zu unterschätzender Anteil verdunstet, was dem Stadtklima zugutekommt und im Sommer für Kühlungseffekte sorgt.
Zur Not mit Druck
Bei Starkregen besteht Handlungsbedarf, um die Statik des Daches vor zusätzlicher Belastung zu schützen. „Lässt die Dachgeometrie eine freie Notentwässerung über die Fassade nicht zu, muss zur Sicherstellung der Notentwässerungsfunktion ein zusätzliches Leitungssystem mit freiem Auslauf auf das Grundstück diese Aufgabe übernehmen“, erläutert Sita Anwendungstechniker Dipl. Ing. Rolf Prang. Steigt der Wasserspiegel auf dem Retentionsdach über die planmäßig vorgesehene Anstauhöhe, läuft die verrohrte Notentwässerung an. Obwohl der Jahrhundertregen (ein fünfminütiges Starkregenereignis, das einmal alle 100 Jahre zu erwarten ist) im Norden Berlins mit 626 l/s x ha durchaus im „grünen Bereich“ liegt, mahnen immer häufiger auftretende Starkregenereignisse zur Vorsicht. Beschleunigt wird die Notentwässerung durch den Einsatz eines Druckströmungssystems, das mit Unterdruck mehr Regen in kürzerer Zeit vom Dach schafft. 27 „SitaDSS Profi“ entwässern im Bereich der Aufsetzhalle 312 l/s über insgesamt 480 m PE-HD-Rohre auf schadlos überflutbare Freiflächen.
Mit Weitblick und Dehnungsbogen
Auch die angrenzende Montagehalle, die über einen wärmegedämmten Trapezblechdachaufbau nach DIN 18234 verfügt, wird per Druckströmung entwässert. Für die mit 10.400 m2 riesige Hallenkonstruktion war dies die ideale Lösung – nicht nur, weil sie extrem leistungsfähig ist, sondern auch weil sie mit wenigen störenden Fallrohren im Hallenraum auskommt. Einzelne Rohrstränge laufen in lichter Höhe über bis zu 132 m Länge, sicher fixiert mit dem „SitaDSS“ Befestigungssystem, das auch die systembedingten Eigenbewegungen der druckbeaufschlagten Konstruktion zuverlässig auf- und abfängt. Zusätzliche Sicherheit brachte die Integration von Dehnungsbögen innerhalb der Rohrleitungsstrecken – zur Kompensation thermisch bedingter Ausdehnung des Gebäudes und des Leitungsnetzes. Sobald der Wasserspiegel auf dem Flachdach die Anstauhöhe von 35 mm überschreitet, springt die Notentwässerung an, die das weitläufige Flachdach zusätzlich um 295 Liter Wasser pro Sekunde entlastet.
Alles „firesafe“
Ein derart weitläufiger Komplex erforderte ein probates Brandschutzkonzept. „Bei baulichen Anlagen und Räumen besonderer Art und Nutzung“ schreibt die DIN 18234, Teil 3 und 4, den Schutz vor Brandweiterleitung von unten nach oben vor. So wird vermieden, dass eventuelle Feuer Entwässerungs- und Lüftungsbauteile durchdringen und sich weiter ausbreiten können, z. B. auch auf benachbarte Dachflächen. In der Montagehalle kamen daher „SitaDSS Fireguard“ Dachabläufe zum Einsatz. Diese Brandschutzgullys, die über ein Verstärkungsblech und eine vormontierte Brandschutzmanschette verfügen, erfüllen die Brandschutzvorschriften auch beim Einbau von brennbaren PE-Rohren. Bei Hitze- und Feuereinwirkung von unten dehnt sich die Manschette blitzschnell aus, um den Anschlussstutzen abzudrücken. Die Durchdringung im Dach wird verschlossen und ein Brandüberschlag auf das Dach verhindert.
41 „SitaDSS Fireguard“ für die Hauptentwässerung und 26 „SitaDSS Fireguard“, aufgestockt mit „SitaMore“ Anstauelement für die Notentwässerung, sind hier im Einsatz. Oft paarweise angeordnet in den Tiefpunkten des Daches wachen sie über Wasser- und Feuerbedrohungen. Abgesehen von ihrer Brandschutzfunktion punkten die Brandschutzgullys auch mit einfacher Montage. Der Einbau kann ohne Zusatzaufwand, z. B. den Einsatz von Hubsteigern, die bei aufwändige Brandschutzummantelungen erforderlich sind, direkt vom Dach aus erfolgen. Und die höhenreduzierte Bauform des Brandschutzgullys passt sich ideal in die waagerecht, bzw. parallel zur Hallendecke verlegte Druckströmungskonstruktion ein.